Abb. 1a (oben): Lage der Fundorte Odagsen und Großenrode. Entfernung in Meilen.**
© Christoph Rinne

Abb 1b (unten):** Detailkarte.
Dreiecke: Kollektivgräber; Rauten: Erdwerke.

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Fig. 1a,b: Location of the Odagsen and Großenrode sites. Triangles: collective burial chambers; diamonds: enclosures.

Einleitung: Das südliche Leinetal – zur Kulturlandschaft vor 5000 Jahren

Wegen einiger ortsfremder Steine im Acker, Knochen, verzierter Keramik und dem Fragment einer Steinaxt trafen sich im September 1981 Archäologen, Vertreter der Denkmalpflege und der Universität auf einer leichten Anhöhe südöstlich des Ortes Odagsen bei Einbeck im Ldkr. Northeim. Mit dem ersten Spatenstich genau sieben Tage später begann die vierjährige Ausgrabung der ersten jungneolithischen Mauerkammer in den alten Bundesländern. In den folgenden zwei Jahrzehnten fanden zahlreiche weitere Untersuchungen von Grabanlagen und Erdwerken im Ldkr. Northeim statt. Aus dieser Zusammenarbeit entstand ein oft interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt zur Besiedlung des südlichen Leinetals an der Wende vom 4. zum 3. vorchristlichen Jahrtausend (vgl. Abb. 1).

Morphologisches

Ein Geländemodell zeigt das Leinetal von der Hube nördlich von Einbeck bis zum Zufluß der Espolde bei Nörten-Hardenberg (Abb. 2). Nach Osten schließen sich Einbecker und Moringer Becken an, die durch den Höhenzug der Ahlsburg getrennt sind. Im nordöstlichen Geländeausschnitt liegt der max. 350 m breite Leinedurchbruch zwischen der Hube und den Northeimer Buntsandsteinbergen, die die östliche Begrenzung der breiten Leineaue bilden. Umfangreiche geomorphologische Untersuchungen belegen in der Aue im Umfeld des Heldenberges Sedimentstärken von bis zu 11 Metern seit der Pollenzone VII (nach Firbas; Mittelneolithikum/Jungneolithikum, ca. 4000 v. Chr.). Die Veränderungen in den benachbarten Becken sind nach Ausweis der Sedimentstärken in den Bachauen (bis zu 0,5 m) und der zu erschließenden Erosion weniger dramatisch (Brunotte/Sickenberg 1977; Rother 1989; Pretzsch 1994). Kartiert sind die jungneolithischen Kollektivgräber, urgeschichtlichen Wall-Graben-Anlagen und neolithischen Großsteingeräte (Alt- und Mittelneolithikum: Dechsel, Schuhleistenkeile, Breitkeile, schwere Arbeitsäxte; Jungneolithikum: Rechteckbeile, Ovalbeile, spitznackige Beile, Streitäxte, gemeineuropäische Hammeräxte).


Abb. 2: Geländemodell des Einbecker und des Moringer Beckens (Ldkr. Northeim); Blick von Südosten.

Fig. 2: 3D-Model of the Einbeck and Moringen basins. View from the south-east. Black triangles: collective burial sites; red dots: causewayed enclosures; blue: Early and Middle Neolithic sites; yellow: Younger and Late Neolithic sites.

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Anhand der bodenkundlich gewonnenen Sedimentstärken und des modernen Reliefs wurde versucht, ein Modell der Landschaft in der Zeit um 3000 v. Chr. zu konstruieren. Hierzu wurde eine Erhöhung der Leineaue mit Bodenmaterial von außerhalb des dargestellten Raumes angenommen, gegenüber der die Bodenerosion an den Hängen zurücktritt. Die jungneolithische Landschaft stellt sich im Becken nur geringfügig verändert dar, wobei die Sedimente von 1 bis 2 m Mächtigkeit in der Aue der Ilme für ein etwas stärker profiliertes Relief sprechen. Im krassen Gegensatz dazu steht das Bild in der Leineaue. Da südlich des großen Heldenberges Bodenniveaus von 94 m üNN dokumentiert sind, der Abfluß der Leine im nordöstlich gelegenen Durchbruch jedoch bei ca. 100 m üNN gelegen hat, ist mit einem bis zu 6 m tiefem See von ca. 3 km² Ausdehnung zu rechnen. Wird entsprechend den neuzeitlichen Verhältnissen zudem eine Hochwasserwelle von 5 m über dem mittleren Wasserstand angesetzt, so sind aufgrund der stärkeren Profilierung keine großflächigen Überflutungen wie zur heutigen Zeit zu verzeichnen.

Die langfristige Bodensenkung durch Salinartektonik im Leinetalgraben stellt dieses Modell in Frage. Aus zahlreichen Bohrkernen liegen jedoch Torflager von bis zu 2 m Mächtigkeit vor, die von tonigen Schluffen limnischer Sedimente und Faulschlammlagern unter- und überlagert werden (Brunotte/Sickenberg 1977, 4ff. Abb. 2, 11). Damit sind in jedem Fall stehende Gewässer, Seen oder Altarme, belegt. Mit dem Fund eines Pelikanknochens im jungneolithischen Erdwerk vom Kleinen Heldenberg ist auch von zoologischer Seite ein Hinweis auf einen See bzw. ausgedehnte Flachwasserbereiche gegeben (Heege/Heege/Werben 1990/91, 98). Offene Wasserflächen dürften demnach auch zur Jungsteinzeit das Erscheinungsbild der Leineaue geprägt haben (Abb. 3).

Abb. 3: Blick von Südwesten über das Leinetal nach Edesheim ( Januar 1994).

Fig. 3: View across the Leine River valley to Edesheim (January 1994), with the river at flood stage.

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Lokales

Eine erste Kreisaufnahme im Arbeitsgebiet erfolgte 1954 (Geschwendt 1954), ist jedoch durch zahlreiche Neufunde, vor allem seit den achtziger Jahren, zu ergänzen. Besonders die auffälligen steinernen Beile und Äxte weisen auf einen weiten Aktionsradius der neolithischen Bevölkerung hin (Abb. 2). Werden diese Großsteingeräte nach früh- bis mittelneolithischen und jung- bis endneolithischen Formen getrennt, zeigt sich im Laufe des Neolithikums ein deutliches Ausgreifen in die höheren Lagen über 200 m üNN (Abb. 4).

Abb. 4: Höhenverteilung von Axt-, Beil- und Dechselfunden zwischen Nörten-Hardenberg, Volpriehausen und Einbeck (vgl. Abb. 1 und 2). Die blauen Kästen umgrenzen die mittleren 50%-Bereiche, die Striche markieren die 5 %- und 95 %-Grenzen. Das rote Quadrat markiert den Median, die Rauten Ausreißer.

Fig. 4: Elevation distribution of find spots of Early/Middle Neolithic (left) and Younger/Late Neolithic (right) adzes and axes in the area under study.

© Christoph Rinne

Ein Pollendiagramm aus dem Torfmoor im Solling weist deutliche Siedlungsphasen aus. Anhand der Getreidekurve und der Anteile von Plantago lanceolata (Spitzwegerich) können drei Siedlungsperioden herausgestellt werden (Steckhan 1961, 542; Schneekloth 1967). Es handelt sich dabei um je einen Abschnitt in der Pollenzone VII, VIIIa und IX (ca. 5000-3500 cal BC, 3500-1500 cal BC, 500 cal BC- 1000 cal AD). Bei den Getreidenachweisen scheint es sich ausschließlich um unterschiedliche Roggenpollen zu handeln, die Bewertung als siedlungszeigendes Getreide ist daher schwierig. Als Windblüher mit deutlich höherer Pollenzahl als andere Getreidearten ist sein alleiniges Auftreten inmitten des Solling nicht verwunderlich und darf keinesfalls als Hinweis auf das Fehlen anderer Getreidearten im Sollingvorland gewertet werden. In archäologischen Funden tritt Roggen in Deutschland erst zu Beginn der Eisenzeit auf, im südlichen Niedersachsen sogar erst in einem späten Abschnitt (Körber-Grohne 1994, 41. Willerding 1970, 344 Abb. 4). Es wird sich daher bei den nachgewiesenen Pollen um wilden Roggen handeln, der wohl als "Unkraut" auf den Feldern im Vorland gewachsen ist. Der jeweils über mehrere Proben vertretene Plantago lanzeolata (Spitzwegerich) zeigt zweifelsohne Siedlungstätigkeit an. Verstärkt wird dieser Eindruck durch annähernd gleichlaufende Kurven für Artemisia (Beifuß), Chenopodiaceae (Gänsefußgewächse) und Rumex (Ampfer), die ebenfalls als Siedlungszeiger zu bewerten sind (vgl. Beug 1992, 286). Als Zeigerpflanze für anthropogene Veränderungen auf den armen Buntsandsteinböden des Solling ist auch die Calluna (Heide) zu bewerten (Beug 1992, 287).

Das Profil zeigt eine Ausweitung der anthropogenen Eingriffe auf die durch Buntsandstein geprägten höheren Lagen des Solling. Dies entspricht der bereits dargelegten archäologischen Interpretation zur Verbreitung mittel- und jungneolithischer Steinartefakte (Nowothnig 1959; Raddatz 1972; Rost 1992, 65f.). Das Vordringen in höhere Lagen kann unterschiedliche Ursachen gehabt haben. Sicherlich ist nach der intensiven frühneolithischen Landschaftsnutzung in den Becken, die durch die zahlreichen Funde und Siedlungen belegt ist, mit einer Verarmung des Bodens und der siedlungsnahen Wälder zu rechnen. Eventuell ist auch eine Veränderung in der Zusammensetzung des Waldes ausschlaggebend, und es wurde für die Gewinnung von Bauholz aus Eichen eine immer größere Distanz in Kauf genommen. Die Höhenlagen könnten aber auch verstärkt zur Waldweide im Sommer genutzt worden sein.

"Polyglottes"

Die Betrachtung der Feuersteinpfeilspitzen aus den Gräbern und Erdwerken eröffnet den Blick auf die Bedeutung des südlichen Leinetals als Mittler zwischen norddeutschem Tiefland und hessischem Bergland. Die in den jungneolithischen Kollektivgräbern sehr vielgestaltig vertretenen Pfeilbewehrungen weisen eine trianguläre oder trapezoide Grundform (sog. Querschneider) auf. Die Kartierung weitgehend zeitgleicher (trichterbecherzeitlicher) Fundensemble zeigt nur im südlichen Leinetal eine nennenswerte Vermischung beider Grundformen (Rinne 2000). Aufgrund der hohen Gewichtsunterschiede zwischen triangulären Pfeilspitzen und Querschneidern sind sehr unterschiedliche Pfeil-Bogen-Systeme und unterschiedliche Jagdtechniken zu erwarten. Nur im südlichen Leinetal scheinen diese unterschiedlichen Jagdtechniken gleichberechtigt nebeneinander zur Anwendung gekommen zu sein. Man war also in beiden "Kreisen" bewandert und wußte die vermutlich jeweils vorhandenen Vorteile bei der Jagd zu nutzen. Und dies mit Erfolg, wie ein Steckschuß aus dem Grab Odagsen I belegt (Abb. 5).

Abb. 5: Tierknochen mit eingewachsenem Querschneider (a Foto; b Röntgenbild).

Fig. 5: Animal bone with an ingrown transverse arrowhead (a photograph; b X-ray image).

© W.-R. Teegen (Abb. 5a) © P. Hessabi (Abb. 5b)  

Literatur

Beug, Hans-Jürgen, 1992:
Vegetationsgeschichtliche Untersuchungen über die Besiedlung im Unteren Eichsfeld, Landkreis Göttingen, vom frühen Neolithikum bis zum Mittelalter. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 20. Hildesheim 1992, 261-339.

Brunotte, Ernst / Sickenberg, Otto:
Die mittel- und jungquartäre Entwicklung des Leinetals zwischen Northeim und Salzderhelden unter besonderer Berücksichtigung der Subrosion. Geologisches Jahrbuch Reihe A 44. Stuttgart 1977.

Firbas, Franz, 1949:
Spät- und nacheiszeitliche Waldgeschichte Mitteleuropas nördlich der Alpen. Allgemeine Waldgeschichte. Jena 1949.

Geschwendt, Friedrich:
Die ur- und frühgeschichtlichen Funde des Kreises Einbeck. Kreisbeiträge zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens 1. Hildesheim 1954.

Heege, Elke / Heege, Andreas / Werben, Ursula:
Zwei jungneolithische Erdwerke aus Südniedersachsen - Der "Kleine Heldenberg" bei Salzderhelden, Stadt Einbeck, und das Erdwerk am Kiessee bei Northeim - Archäologische Funde und Befunde. Die Kunde 41/42, 1990/91, 85-126.

Körber-Grohne, Udelgard:
Nutzpflanzen in Deutschland. Kulturgeschichte und Biologie. Stuttgart, 3. Auflage 1994.

Nowothnig, Walter:
Die Steinbeilfunde im Oberharz. Zeugen einer steinzeitlichen oder mittelalterlichen Begehung des Gebirges. Die Kunde N.F. 10, 1959, 51-61.

Pretzsch, Kurt:
Spätpleistozäne und holozäne Ablagerungen als Indikatoren der fluvialen Morphodynamik im Bereich der mittleren Leine. Göttinger Geographische Abhandlungen 99. Göttingen 1994.

Raddatz, Klaus:
Zur Besiedlung des Solling in der Steinzeit. Zugleich ein Beitrag zur Frage verschleppter Bodenfunde im südniedersächsischen Bergland. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 41, 1972, 1-21.

Rinne, Christoph:
Pfeilköpfe der Trichterbecherzeit - Typologie und Funktionalität. In: www.jungsteinsite.de - Artikel vom 27. Juni 2000.

Rost, Achim:
Siedlungsarchäologische Untersuchungen zwischen Leine und Weser. Zur Besiedlungsgeschichte einer Mittelgebirgslandschaft. Göttinger Schriften zur Ur- und Frühgeschichte 24. Neumünster 1992.

Rother, Norbert:
Holozäne fluviale Morphodynamik im Ilmetal und an der Nordostabdachung des Sollings (Südniedersachsen). Göttinger Geographische Abhandlungen 87. Göttingen 1989.

Schneekloth, Heinrich:
Vergleichende pollenanalytische und 14C-Datierung an einigen Mooren im Solling. Geologisches Jahrbuch 84, 1967, 717-734.

Steckhan, Hans-Ulrich:
Pollenanalytisch-vegetationsgeschichtliche Untersuchungen zur frühen Siedlungsgeschichte in Vogelsberg, Knüll und Solling. Flora 150, 1961, 514-551.

Willerding, Ulrich:
Vor- und frühgeschichtliche Kulturpflanzenfunde in Mitteleuropa. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 5. Hildesheim 1970, 287-375.